Bei uns daheim...

"Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (so dass ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärts schreiten können), indem ich mich also anschicke, meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule denn auch gewachsen bin."
Dieser wunderbare Anfang stammt nicht von mir, sondern von Thomas Mann.
Felix Krull heißt der Protagonist. Er stammt, wie der Autor vermerkt, aus "feinbürgerlichem, wenn auch liederlichem Hause".
Von mir kann ich das nicht behaupten. Ich komme aus kleinbäuerlichen, aber soliden Verhältnissen.
Das Licht der Welt erblickte ich am 11. Juni 1940.
Für die Welt ein annus horribilis, für eine junge Mutter in einer unbeheizten Kammer des großen, zweistöckigen Bauernhauses ein annus benedictus.
Jubel über Jubel. Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt!
"Was für Tage und Wochen atemberaubender Spannung liegen hinter uns! Was für unerhört große Siege hat Gott der Herr unserem Volk und seinem Führer geschenkt! Lasst uns diese große Zeit der Weltgeschichte doch wirklich denkend, nachdenkend erleben, nicht bloß verleben."
Nein, Freunde, nicht diese Töne, sondern lasset uns andere anstimmen!
Ein schöner Junitag mit viel Sonne und blauem Himmel, windstill, warm und friedlich. An solchen Tagen werden Lämmer geboren. Die große Hausgemeinschaft war bei der Heuernte auf der Wiese. Meine Mama saß mutterseelenallein am Fenster mit ihrem dicken Bauch, hochdick, wie sie immer sagte.
Wenn ich sage Hausgemeinschaft, so ist das stark über- bzw. untertrieben, denn es handelte sich insgesamt nur um drei Menschen im Rentenalter, nämlich meine Großeltern und die unverheiratete Schwester der Großmutter, welche auf die bis dato vorhandenen vier Kinder aufpasste, und die zwei Schwiegertöchter.
Die drei Söhne und der einzige Schwiegersohn waren auf Fernreisen. Langzeitaufenthalte mit All Inclusive. Der eine in Russland, der andere auch irgendwo im Osten, der jüngste in Norwegen und der Schwiegersohn in Westfrankreich. Keiner hatte irgendetwas gebucht. Es waren Schnäppchen. Zum Nulltarif und Last Minute. Oder vielleicht besser First Minute, weil der Abenteuerurlaub gerade erst begonnen hatte.
Die einzige Schwester meiner Mama, die ältere, saß an einer Drehbank irgendwo in Nürnberg und schraubte Zünder in die Granaten.
Das Heu auf der Wiese musste gewendet werden, damit es nicht verfaulte, sondern den vier dürren Kühen in dem finsteren, niedrigen Stall, dessen Wände im Sommer schwarz waren von Fliegen und im Winter tropften vom Kondenswasser, als Futter dienen konnte.
Auf den anderen Höfen ringsum mehr oder weniger die gleiche Situation, das gleiche Bild. Verlassen die Häuser, Stille überall. Nur am Bach die Nachtigall. Anwesend nur die gähnenden Hofhunde, die sich an ihren Ketten wohlig in der Sonne räkelten, und die Katzen, die den Mäusen das Leben schwer machten. Und das gackernde und schnatternde Federvieh.
Am Kammerfenster meine Mama und ich. Meine letzten Minuten in fruchtwässerlicher Geborgenheit. Sehen konnte ich noch nichts. Aber hören. Die Frieda aus der Nachbarschaft musste, so mutmaßte ich, unten auf der Straße beim Spielen sein.
"Frieda, nimm mei Fahrrad und fahr zur Hebamm. Ich halt"s nimmer aus."
Die Frieda wusste, was die Uhr geschlagen hatte. Sie schwang sich auf den schwarzen Bock mit dem Torpedo-Freilauf, mit einem Gang, einem Kettenblatt hinten und einem vorne, und strampelte los, und zwar ins obere Dorf, wo die Hebamme wohnte, so überhastet, dass sie irgendwo gegen einen Baum fuhr und die Lenkstange verbog.
So wäre schon der Anfang beinahe schief gegangen. Dann gäbe es mich nicht und keiner könnte diese Geschichten erzählen.
Ach, da kann einer ins Spekulieren kommen. "Ich sag es dir: ein Kerl, der spekuliert, ist wie ein Tier, auf dürrer Heide von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt, und rings umher liegt schöne, grüne Weide."
Die Hebamme kam gerade noch rechtzeitig, half beim Pressen und gab Trost, wenn es zu sehr weh tat: "Stellt euch ned so an, hingehalten habt ihr"s ja auch, damals!"
Es wurde eine saubere Hausgeburt, aber ohne draussen wartendes Gefolge von Eltern, Geschwistern oder sonstigen Verwandten.
Die Welt stand Kopf. Was unten sein sollte, war oben, und umgekehrt. Ein paar spürbare Klapse, zum Glück nicht auf den Hinterkopf, weckten mich aus meinen Träumen und brachten mich zum Plärren.
Ein Bub, unübersehbar. Ein schöner kräftiger Bub. Kein Gnom. Zwei Frauen und ein neues männliches Wesen in der kleinen Kammer. Niemand, der mir meine Existenz neidete. Aber auch die Freude konnte nicht ausufern. Nicht einmal der Erzeuger war zugegen. Rekrutiert im sechsunddreißigsten Lebensjahr, schob er Wache an der Westfront, der hünenhafte Held, der Soldat, der sangesfreudige, um den großen Sieg über Frankreich zu sichern.

"Der Krieg, der notwendige Weg zum Frieden, zur Sicherheit des Volkes vor künftigen Angriffen auf seine Existenz; die Bauwerke, die Deutschlands Ewigkeit darstellen sollen; auf unserem Gebiet die Sterilisation, die ihre Frucht ja selbstverständlich in kommenden Generationen zeigen kann, die Gestaltung der Ehe; das alles zeigt, wie unser Volk die Gegenwart für die Zukunft einsetzt; es folgt alles einem Grundgedanken und einer Gesamtrichtung."
Schöne Sprüche. Fromm und naiv oder zynisch und pervers? Der prominente Geistliche, der sie zu Papier brachte, "suchte die Publizität und beeinflusste die öffentliche Meinung."
Hätte der andere Amtsträger, der mich wenige Tage später in die christliche Glaubensgemeinschaft aufnahm, von der Kanzel herab etwas sagen können? Am Taufbecken? Irgendeine versteckte, raffinierte Bemerkung, dass da etwas schief lief in Deutschland? Ich hörte nichts.
Das ist mein Schicksal, dass ich immer die Worte in meinem Kopf drehe und wende und wende und drehe, die nicht gesprochen wurden. "Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen" heißt es bei Lukas.
Ich bewege in meinem Innern immer das Ungesagte, es geht mir nicht aus dem Kopf.

"Gestaltung der Ehe". Davon schreibt der schon zitierte Gottesgelehrte. Diese, in unserem Fall irgendwann im September 1939 vor dem lieben Gott, der ja bekanntlich alles sieht, in Sünde vollzogene, hatten die 22-jährige Hausgehilfin und der arbeitslose Spengler und Installateur am 18. Januar des darauffolgenden Jahres standesamtlich und kirchlich bestätigen lassen, vierzig Tage bevor sich der oben zitierte Gottesgelehrte derart gewandt über die Zukunft des tausendjährigen Reiches ausließ.
Das Hochzeitsmahl fiel aus, Champagner wurde nicht gereicht. "Etz schaut einmal schön her alle drei!" sagte der Fotograf.
Sterilisation zeigt Frucht? Unter Umständen, in Gestalt der Verhinderung anderer Umstände, aber nur, wenn es sich bei den zu Sterilisierenden um unerwünschte Kostgänger handelt. Es sei schon einsichtig, so der christologisch argumentierende Manager damals, "das Gesunde" mehr zu betonen als das "in dem Sinn Lebensunwerte, dass es für den Bestand und den Fortschritt des Volksganzen nicht eine Hebung, sondern eine Last darstellt."
Deutschlands Ewigkeit, gesund und lebensunwert, Last und Hebung, Geschwätz und Gefasel. "A so a dumms Gschmarri" würde mein Großvater sagen, ein praktisch denkendes kleines Krautbäuerlein, dem keine theologische Abhandlung das Gehirn vernebelt hatte und von dem keine Zeile überliefert ist. "Schatz, mach noch einmal die Bewegung, erst kommt die Senkung, dann die Hebung" sangen wir als Pubertierende zu dem Evergreen "Whispering".
Das Menschenleben im Werturteil Gottes und der Menschen:
"Mädel hat nicht Hof noch Haus, Mädel hat kein Geld, hat kein Geld, doch ich geb es nicht heraus für alles in der Welt" sang mein Vater, der Spengler.
"Wir müssen uns doch damit auseinandersetzen, dass in der Tat die Menschen für die Menschen von verschiedenem Wert sind. Man begreift doch leicht, dass die Abstufung schwankt von der völligen Unentbehrlichkeit bis zur völligen Entbehrlichkeit" schwadronierte der Moraltheologe.
Wer ist entbehrlich? Und für wen?
Für manchen der damals den Lauf der Dinge Bestimmenden wäre ich sicher "entbehrlich" gewesen, für meine Eltern nicht.
Und "es ist die weltanschauliche Grundlage, die gerade uns Lutheraner diesen Staat mit Freudigkeit bejahen heißt."
Die "weltanschauliche Grundlage"? Blut und Boden? Die Rasse? Mein Kampf? Oder gab es noch eine andere, unbekannte? Man hatte doch studiert, "und leider auch Theologie". Man konnte doch lesen. Parteiprogramme zum Beispiel oder den "Stürmer".
Kein "Ja, aber"? Nicht der geringste Zweifel?
"Freudigkeit" wie in "Nun freut euch, lieben Christen g"mein und lasst uns fröhlich springen"?
Luthers Warnung für die Katz? "Und hüt dich vor der Menschen Satz, davon verdirbt der edle Schatz, das lass ich dir zur Letze"
Diakonissenanstalt Neuendettelsau, gegründet 1854 von Pfarrer Wilhelm Löhe. Ca. acht Jahrzehnte drauf ein klares Bekenntnis eines "Administrators" derselben zur "nationalen Revolution": "Ich hoffe, ja, ich weiß, dass Dettelsau durchaus national eingestellt ist und es immer war. Es gibt gewiss niemand unter uns, der nicht zum neuen Staat bejahend steht."
Doch. Sechs Jahre nach dieser stolzen Verlautbarung bezüglich des von Wilhelm Löhe gegründeten Werkes der Liebe kam ein römisch-katholisch getaufter, nicht heil-, sondern mittelloser Pfannenflicker aus dem Allgäu dahergelaufen, ein ehemaliger Ministrant, den sein Pfarrer auch gerne als Theologiestudent gesehen hätte, eroberte das Herz einer Eingeborenen und werkelte und wirkte, nachdem er den "siegreichen" Krieg überlebt hatte, als Pfannenflicker segensreich in der ehemaligen Waschküche des zur Dorfkirche gehörigen alten Pfarrhauses.
Der Chefpfarrer von Sankt Laurentius: "Für meine Person habe ich es schon oft genug gesagt, dass mir der Nationalsozialismus ein großes inneres Erlebnis geworden ist, ein Geschenk Gottes. So ist es selbstverständlich, dass ich für meine Person mit ganzer Freudigkeit den neuen Weg gehe, den Gott unser Volk führt."
Da muss mein Vater einen anderen Gott gehabt haben. Vielleicht den von jenem fränkischen Kirchweihlied "O du brauns Bierla, du bist mei Gott, mei Gott, bald dreht"s mi Wista, bald dreht"s mi Hott."

Günter Kohlmann

Zitate aus
Christine-Ruth Müller/Hans Ludwig Siemen, Warum sie sterben mussten. Leidensweg und Vernichtung von Behinderten aus den Neuendettelsauer Pflegeanstalten im Dritten Reich.

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