"Kumm, gemmer hamm!"

"Dahoam is dahoam" heißt es bei den Bayern, im Fernsehen. Nix Langweiligeres als solche Serien, die nur Klischees bieten.
Da lob ich mir meine anschaulichen Geschichten aus der mittelfränkischen Dorfidylle um die Mitte des letzten Jahrhunderts.
Den Titel meiner Sammlung liefert eine Begebenheit vor rund fünfzig Jahren, eine Art Katastrophe in meinem jugendlichen Leben, ein unvergesslicher Moment in der Vater-Sohn-Beziehung, "sunufatarungo", wie es im althochdeutschen Hildebandslied heißt.

Nie hatte mein guter, gütiger Vater die Hand gegen mich erhoben. Er war zwar manchmal jähzornig, flippte schnell aus, wenn ihn jemand ärgerte, aber auf seinen Buben ließ er nichts kommen. An besagtem Tag oder besser gesagt in jener Nacht brannten ihm alle Sicherungen durch.
Es war ein eiskalter, schneereicher Altjahrabend, Silvester vulgo. Beim Dorfwirt war Tanz. Auch meine Eltern vergnügten sich dort. Sie gingen aber gegen ein Uhr heim. Sie waren sicher noch ineinander verliebt, meine Mama war achtunddreißig, der Vater einundfünfzig. Ich, ein sechzehnjähriger Pubertierender, sagte, ich bleibe noch ein bisschen. Onkels und Tanten, ältere Cousins und Cousinen würden dafür sorgen, dass mir nichts passierte und dass ich nicht über die Stränge haute. Alles war ja züchtig und brav zu jener Zeit, die ersten Tanzversuche, das Anbandeln mit den gleichaltrigen und leicht älteren Mädchen und jungen Frauen. Ab und zu, besonders bei sommerlichem Tanzvergnügen hatte man sich schon mal nach draußen begeben ("Mir is so heiß, gähst a weng mit naus, Sabine?") in der festen Absicht, Kusserfahrungen zu sammeln.

Dabei geriet ich aber seltsamerweise meistens an die coolsten Teenager meiner Generation. "Erschd dusd amoll dein Kaugummi raus!" sagte die eine, die andere amüsierte sich darüber, wie ich die Augen schloss, so wie ich es von den Heimatfilmen her kannte: "Worrum maxdn bomm Küssn immer die Aung zu?" Ja, warum eigentlich? In dem Moment kam ich mir reichlich belämmert vor, während sie, die mir zwei Jahre voraus war, gluckste vor Lachen.
Rar, sehr rar waren die Romantischen, die selber die Augen schlossen und die Klappe hielten, wenn man sich dem unter seidenen Wimpern gelegenen Stupsnäschen und den schön geschwungenen, in unnachahmlicher Raffinesse leicht geöffneten, Lippen näherte und den rosigen Duft einsog. Diese waren mir die liebsten.

Aber diesmal war es kalt und unwirtlich draußen. Die Mama, die von guten Bekannten schon ab und zu einen Hinweis bekommen hatte ("Gell, bassd fei auf eiern Buhm auf!"), hätte sich nicht zu sorgen brauchen.
Mich faszinierten die durcheinander wirbelnden Petticoats der Damen, die wohlige Wärme des mit Rauch und Bierdunst geschwängerten Ballsaals und die schmissigen Klänge der Feuerwehrkapelle. Aufklärung geschah durch die Liedtexte: "Coco coco coco la, die Mädchen sind zum Küssen da, aber nicht die ei-nä, die ich mei-nä... ich weiß was, ich weiß was, ich weiß was dir fehlt: ein Mann, der dir kei-nä (kurze Pause) Märchen erzählt", ...
"Du singst doch falsch!" schrie mir eine, mit der ich oft herumsteppte, ins Ohr, wenn ich sie näher an mich heranzog. Sie hatte keine Ahnung. Ich sang die zweite Stimme, also eine Terz drüber, meine Spezialität.
Halb zwei. Halb drei. Die Zeit verging wie im Flug. "Die Fischerin vom Bodensee ist eine schöne Maid, juchhe!" und "Da kommt ein alter Hecht daher wohl übers große Schwabenmeer." Lauthals singend saß ich zwischen den Verwandten und Nachbarn: "Ein weißer Schwan ziehet den Kahn mit der schönen Fischerin auf dem blauen See dahin."

Das schmetterte ich besonders gern eine Terz höher als die Melodiestimme. War es die richtige Tonlage und die Kapelle sehr laut, so konnte man so ausgelassen singen, dass man alle Sorgen, die Schule, alle fiesen Lehrer und die in den letzten Wochen von ihnen erteilten schlechten Noten vergaß.
Es muss gegen drei Uhr gewesen sein, da kam er daher, aber nicht der alte Hecht, sondern mein grauköpfiger Vater, genau bei "Schwan".
"Schwan", "Schwan" "Schwan" dudelt es noch heute in meinem Kopf, wie wenn die Schallplatte einen Sprung hat und die Nadel nicht von der Stelle kommt. Sagt jemand "Mein lieber Schwan!" oder ist die Rede von der charmanten Anwärterin auf das Amt des Bundespräsidenten, der blitzgescheiten Gesine Schwan, so kommt mir jene Nacht in den Sinn.
Nichts ahnte ich, hatte stattdessen urplötzlich eine Empfindung vom Weltuntergang oder dem Schicksal von Sodom und Gomorrha, dem großen Beben von Lissabon, als mir links und rechts seine vom Dachrinnenfalzen zerschundenen Spenglers-Pratzen um die Ohren flogen, so dass ich mich fast nicht auf dem Stuhl halten konnte.

Zum Glück waren meine erwachsenen Begleitpersonen, selbst die gerade tanzenden, sofort zur Stelle und bildeten einen Kordon um mich mit viel Geschrei und Abwehrgesten.

"Woss brauchst etz du den Buem do haua, wu der asu brav dohockt? Der hat doch gor nix gmachd!" Gerangel, Gepurzel, ein Tumult wie aus den

Wilhelm-Busch-Geschichten und mittendrin ich, die eigenen Hände sowie die einiger weiblicher Sympathisanten über meinem, diesmal zumindest, unschuldigen Haupt.

Die Filzschlappen meines Vaters, in denen er hereingerauscht war, hatten sich selbstständig gemacht und waren während der Kampfhandlungen einer nach dem anderen über den ganzen Saal geschlittert und in irgendeiner Bierpfütze unter irgendeinem Tisch gelandet.
"Kumm, gemmer hamm" sagte er leise, nachdem er sie zusammengesucht hatte und wir beide beschämt an der Saaltür standen.
Einträchtig stapften wir in der stockdunklen Nacht durch den tiefen Schnee. Die arktische Kälte machte mich schlagartig nüchtern. Sehen konnte ich es nicht, aber an seinem leicht schniefenden Tonfall merkte ich, dass er weinte. "Bua, des hobbi doch ned gwollt. Ich woor hald su narrisch, wall mi die Mama aufgreechd had. De had denkd, du liggst irgendwo im Schnää und bisd scho derfruurn. De had su lang benzd, bisser mi aufgrabbld hobb."
Hatte ich sie verdient, diese Abreibung? In Anbetracht der zahlreichen Eskapaden, die mir ungestraft durchgingen, ganz sicher. Wahrscheinlich hätte sie im äußersten Notfall auch geholfen, auch noch bei längerem horizontalem Aufenthalt im Freien bei fünf Grad Frost und mit einskommadrei Promille, mich wieder ins Leben zurückzurufen. Was weiß ein Sechzehnjähriger von den unmenschlichen Qualen einer Mutter, die nur ein Kind hat, wenn sie dessen Bett nach einem halben Dutzend Kontrollgängen, die in immer kürzeren Abständen erfolgt sind, immer noch leer vorfindet?
Und hinter den gefrorenen Fensterscheiben funkeln unbarmherzig die kalten Sterne.

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