Ciao, ciao, bambina ...

In bester Erinnerung ist mir die schöne Zeit gegen Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als die ersten Gastarbeiter bei uns ankamen. Emilio und Antonio, Tino und Sergio und all die anderen mit ihren schönen, klangvollen Namen brachten die Mentalität des Südens in unser langweiliges Dorf.
Schon vorher hatten ältere Bekannte vom Zelten am Gardasee und am Lago Matschorre erzählt, Rudi Schuricke besang die Isola Bella und die florentinischen Nächte. Capri war mir ein Begriff und seine Fischer, die in weitem Bogen ihre Netze auslegen. "Bella, Bella, Bella Marie, häng dich auf, ich schneid dich ab morgen früh" sang mein Vater am Sonntagvormittag zum in der Küche dudelnden Radio mit, während er die Kartoffeln für die rohen Klöße rieb, ein braver Küchenheld mit Schürze und Filzpantoffeln, der keiner Fliege was zuleide tun konnte. So oft ich es hörte, musste ich doch immer wieder lachen.

Ein bisschen Italienisch lernte ich dann im Sommer 1957 während eines Urlaubs in Südtirol, den ich mir nach fünf Wochen Ferienarbeit gönnte. Eine einzige Woche in einem winzigen Bergdorf gleich hinter dem Brenner, die Anreise erfolgte per Bus. Zwei gute Bekannte waren dabei. Während sie viel Zeit mit Zuschauen auf der Terrasse der kleinen Pension verbrachten, ging ich mit der langbeinigen Gina spazieren. Sie war zwei Jahre älter als ich und sehr reif. Ihre ältere Begleiterin, die Gouvernante, könnte man sagen, machte, zu unserer großen Freude, täglich eine ausgedehnte Siesta. Uns beiden mit den Herzen voller Ahnungen und ungestillter Sehnsüchte blieb nur diese Zeit nach dem Mittagessen. Abends war die Gina für mich unerreichbar.
Irgendwie muss sie meine Gesellschaft geschätzt haben, die eines an Fremdsprachen interessierten transalpinen Grünschnabels, der ich war. Vielleicht auch deswegen, weil von mir noch keine echte Gefahr ausging. Improvisierter Italienischunterricht auf Höhenwegen, learning by doing. Gina, fa sole. Passegiamo? Si, perche no? Ho bisogno di parlare. Parole, parole.
Natürlich waren es schon gewisse spezielle Vokabeln, die ich memorieren wollte, und Gina hatte sicher genau so viel Spaß dabei wie ich. Amore mio, un bacio, perche no? Sei una ragazza molto bella. Hai occhi belli. Le dolce parole. Mi piace ascoltare. Sono un ragazzo buono, no sono cattivo. Un piacere.
Es war vergnüglich. Wo magst du heute sein, liebe Gina. Carissima? Cuanti bambini hai?
Der absolute Glücksmoment jenes Kurzurlaubs aber war nonverbal und spielte sich auf dem Parkplatz vor dem einfachen Gästehaus ab, die Begegnung mit einem Engelchen, una angelina.
Eine italienische Familie hatte ihre Sommerfrische im Alto Adige beendet und war im Begriff abzufahren. Mit der kleinen Tochter, die höchstens vierzehn oder fünfzehn war - so stelle ich mir die Julia der Capulettis vor - hatte ich, Romeo Montagu, im Speisesaal schon des öfteren ein paar verstohlene Blicke gewechselt. Die Mama saß auf dem Beifahrersitz, der Papa war noch mit dem Verladen der Koffer beschäftigt, die kleine glutäugige Schöne hatte hinten Platz genommen. Wie ein trauriger Hund muss ich wohl gewirkt haben, so alleine vor dem Eingang. Denn was macht die Unvergessliche aus dem fernen Süden, von der ich nicht einmal den Namen weiß? Sie formt die Lippen zu einem Kuss, un bacio affettuoso, führt ganz bedächtig ihre rechte Hand zum Mund, drückt diesen unvergesslichen Kuss, questo bacio indimenticabile, un bacio immortale, auf die Innenfläche und legt die flache Hand mit unsäglicher Zärtlichkeit auf die Autoscheibe. Mamma mia, wenn ich daran denke, da schluck ich heute noch, dass mir der Adamsapfel auf und ab hupft, und die Tränen schießen mir nur so in die Augen. Meine Knie waren Butter, buchstäblich, an jenem sonnigen Augustvormittag 1957 in 1000 Meter Höhe.

Diese unendlich rührende Geste zu erwidern, dazu fehlte mir jegliche Erfahrung. Ein schwaches Winken war alles, was ich zustande brachte, so schüchtern war ich.

Tu, dove sei, piccola amica, bambina appassionata? Wohin hat es dich verschlagen? Du hast diesen süßen Abschied längst vergessen. Ich habe in manchen Dingen, Gott sei"s geklagt, ein Gedächtnis wie ein Elefant. Non posso dimenticare.
Im Sommer 1960 arbeitete ich in einer großen Radiogehäuse- und Tonmöbelfabrik. Es war die Zeit der Grundig- und Saba-Superempfänger, die von Jahr zu Jahr größer wurden und mit jedem neuen Modell irgendwelche neuen weißen Knöpfe zum Drücken dazubekamen. Das Ganze mündete schon bald in regelrechten Truhen mit Plattenspielern und zwei seitlichen Lautsprechern, alles aus Holz, versteht sich, damit es so richtig warm und satt klang. Da hatte ich gerade die Schule hinter mich gebracht und kein Geld. Also verdingte ich mich einige Wochen lang am Fließband, damit ich mir wenigstens die notwendigsten Bücher fürs Studium kaufen konnte. Im Haushalt meiner Eltern gab es außer ein paar Kochbüchern und der Bibel, die sie zur Trauung im Januar 1940 bekommen hatten, kaum ein Buch. Mein Vater war Stammkunde in einer Leihbücherei in der Kreisstadt und las in seiner knappen Freizeit alles querbeet, von Ganghofer über Westernromane bis zu Bergbauern- und Chefarztschnulzen.

Wie anfangs erwähnt, die ersten italienischen Gastarbeiter waren in Franken angekommen, hauptsächlich Sarden, und fanden Arbeit in der Fabrik. Überwiegend kleine, schwarzhaarige Burschen mit vielen Illusionen und festen, von der Mamma mit auf den Weg gegebenen Grundsätzen. Aufgrund meiner bescheidenen Italienischkenntnisse und meines leidenschaftlichen Interesses an ihrer Lebensart war ich schon bald aller Freund. Mein Vater, der Hanni, der während seiner letzten Lebensjahre auch in der Tonmöbelfabrik arbeitete, war der Giovanni. Sie wollten mich später sogar in den Heimaturlaub mitnehmen und mich zuhause ihrer Mama und ihren Schwestern zeigen. Einen Kleinbus wollten sie mieten, sprachen immer von Civitavecchia, wo es auf die Fähre gehen sollte.
Ich hätte schon unbändige Lust gehabt, aber auch ich hatte eine Mamma, und die führte, wenn ich mein Vorhaben nur zaghaft erwähnte, ein solches Theater auf, dass ich die Umsetzung bleiben ließ. Sie hegte eine durch kein Argument zu beseitigende Angst, ich könnte dort unter die Räuber und Banditen fallen. Die Ragazzi, die Banditi, die Schlawiner! Alles Welsche war suspekt.
Vielleicht hätten die Mammas in Sardinien und die im fränkischen Kartoffelanbaugebiet sich einfach einmal austauschen sollen. Aber man konnte noch keine E-mails schreiben. Sardinien war weiter weg als die Dominikanische Republik heute. Auch die tapferen Sarden hatten manchmal Angst. Vor der Technik. Überall ratternde, schreiende, heulende, kreischende Maschinen, Sägen, Fräsen, Bohrer, Spritzdüsen. "Ho paura" war eine der Redewendungen, die meine Grundausstattung, die nur für das Spazierengehen mit hübschen Mädchen gereicht hatte, um eine wichtige Ausdrucksmöglichkeit ergänzte.
Ein Vorarbeiter wies den Antonio am Fließband ein. Tags zuvor hatte der Tedesco noch ganz normal Deutsch bzw. Fränkisch gesprochen. "Ho paura" sagte der Antonio unbeirrt angesichts der kreischenden Maschine. "Ich glaub", er hat Angst" versuchte ich zu vermitteln und zu dolmetschen.
Da bekam ich das seltsamste Deutsch meines jungen Lebens zu hören:
"A wa, nix Angst! Warum Angst? Du aufpassen. Du luggi luggi. Hier Maschin. Du anschalten Maschin, nehmen so, und wenn Werkstück kommen, du schleifen Werkstück. Immer sauber und mit Attenzione. Aber fix! Du nix nachkommen, nix money, kabiddo? Luggi luggi! Nix zu fest. Wenn zu viel weg, kaputt. Dann Ausschuss. Grawitschko. Wegschmeißen. Awandi. Nix verkaufen. Du verstehen? Und nix quatschen. Nix Awawawawa, wenn arbeiten. Du verstehen? Kabiddo?"
Ich verstand nichts mehr, und das lag nicht nur an den kreischenden Maschinen. Kann ein Mensch so schnell seine Muttersprache vergessen? Es war beeindruckend.

"Prendo il fugile e vado alla frontera" sangen wir beim fränkischen Bier zwei- und dreistimmig, wehmütige Carabinieri-Lieder. Ich kam mir vor wie beim Trentiner Bergsteigerchor. Zu fortgeschrittener Stunde klärten sie mich auf, die Latin Lovers, wie man die Mädchen dies- und jenseits der Alpen wunschlos glücklich macht. Vieles musste ich erraten. Um sicherzugehen, schüttelte ich immer den Kopf, wenn sie mich fragten "Mai hai fatto....?" "Ah, è bello" sagten sie und schnalzten mit der Zunge.

Es war eine faszinierende Welt, in die ich da blickte und die ich noch nicht verstehen konnte.
Einige Jahre später wuchs, angefeuert durch die temperamentvollen Filmszenen mit der Lollo und der Loren sowie die Lieder "Volare" und "Sag mir cuando, sag mir wann ..." die Sehnsucht, das Land der Römer mit der Seele zu suchen, ins Unermessliche. Für mich und meine Verlobte buchte ich eine Bahnreise nach Rimini samt zwei Wochen Vollpension in einem kleinen Hotel.
Schon die Ankunft nach langer nächtlicher Bahnfahrt war beeindruckend. Licht, Licht und nochmals Licht. Das Meer spiegelte den Sonnenschein, es war blendend hell, so wie ich es noch nie erlebt hatte. Pferdedroschken, eine breite, palmengesäumte Strandpromenade, ein kleines Hotel nach dem anderen, fremde Laute, spontaner, fröhlicher Gesang von den Baustellen aus braungebrannten Brustkörben, Männer, was sag ich, Balzhähne, die, fast so zwecklos wie Singvögel, zwitschern und singen, einfach, weil sie sich des Lebens freuen, ein gemütliches Zimmer und ein Speisesaal mit blitzsauber gedeckten Tischen, Herz, was willst du mehr?
Das Wasser war sandig und trüb, und man musste hundert Meter waten, bis es einem wenigstens bis zum Nabel reichte. "Ah, Rimini! Des is doch su dreggerd" meinte eine italienerfahrene Bekannte abfällig. Es war mir wurscht. Ich fand es super. In den Weihern, in denen wir als Kinder schwimmen gelernt hatten, konnte man auch keinen Grund sehen. Die italienischen Mammas und Nonnas in ihren schwarzen, züchtigen Badeanzügen standen bis zu den Kniekehlen im der lauen Brühe und palaverten, stundenlang.
Und zu essen gab es reichlich. Pasta, pasta, pasta, dazu Fisch und Gemüse, Dolce und Frutta, Gelati, Vino Rosso, es war das Paradies. Am Abend promenierte man auf der Promenade, vorbei an tausend Geschäften und Kramläden, Eisdielen und Tanzcafés. Die Band veranstaltete Spielchen, spielte immer kurz irgendein musikalisches Motiv an, und wer am schnellsten herausfand, was es war, gewann eine Flasche Asti Spumante. Da war ich schnell der Held des Abends, zum Erstaunen unserer Urlaubsbekanntschaften. Ein paar beliebige Takte aus der Wilhelm-Tell-Ouvertüre, schon hatte ich erkannt, was da geboten wurde. Ecco, una bottiglia per il signore! Ich drehte mich um, konnte nicht glauben, dass ich der "Signore" war.
Für die nächsten zwanzig Minuten hatten wir zu trinken. Nächste Aufgabe: ein paar Takte sanfte, gedämpfte Trompeten, na, na, na? Das war, richtig, Glenn Miller: Moonlight Serenade. Wieder eine Flasche Asti gewonnen. Mein Lachen steckte alle an am Tisch. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätten mich huckepack genommen und im Kreis herumgetragen.
Und unvergesslich die um ihre Figur besorgte, immer hungrige Berlinerin am Nebentisch! Unsere liebe fürsorgliche Mamma, wie wir sie nannten, die italienische Angestellte, die uns bei Tisch bediente, meinte es gut und häufte maßlos die Spaghetti auf ihren Teller. "Nee, nee" meinte die Spreewald-Amme, "det is ze ville. Ick muss mir zusammnehm", ick bin sowieso schon zu dick."
Mit vielen beeindruckenden Gesten versuchte sie der Italienerin klarzumachen, dass sie überall zu üppig sei und ein paar Kilo weniger auf die Waage bringen müsste.
"No, no, bene, bene" meinte unsere Mamma und beschrieb mit den Händen eine wohlgeformte Venus.
"Siehste, Paule" meinte unsere Tischnachbarin, zu ihrem Mann gewandt, "se meent ooch, dass meine Beene zu dick sin. Ein bisscken Deutsch kenn"n die hier alle."

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